Meine Gedanken an Max Barth, der in meiner Jugend ein väterlicher Freund war.

Es war im Juli im Jahr 1970. Die Sonne über Waldkirch brannte erbarmungslos von einem völlig wolkenfreien, wunderbar tiefblauen Himmel. Schon am Morgen hatte die Luft regelrecht gestanden vor brütender Hitze und zu atmen fiel schwer, dermaßen schwül war es. Wer konnte, zog sich in kühlere Räume seiner Wohnung zurück und vermied es, ins Freie zu gehen, sich diesem Brutkasten auszusetzen.

In der Mansarde unseres Hauses, in dem ich mit meinen Eltern wohnte, lebte er – der 74 Jährige Max Barth: Pädagoge und politischer Journalist, geboren 1896 hier in Waldkirch und nach einem unruhigen Lebensweg wieder zurückgekehrt in seine Heimatstadt, reich an Lebenserfahrung aber nicht an materiellen Werten. Er hatte keine Krankenversicherung und bekam seine Medikament von einem befreundeten Arzt, dessen Tochter er Nachhilfe gab.

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Es war gegen 17.00 Uhr, als wir aus seiner Wohnung einen dumpfen Schlag hörten, so als wäre etwas umgefallen. Meine Eltern und ich gingen nach dem Rechten schauen und fanden Max Barth auf dem Boden liegend. Er konnte kaum noch sprechen.

Ich rief den Krankenwagen, aber es dauerte endlos lange bis zu dessen Eintreffen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis die Sanitäter da waren, den immer noch kaum ansprechenden Max Barth auf die Trage legten und zum Rot-Kreuz-Wagen trugen. Ich stieg mit ein, konnte ihn nicht allein lassen.

Der Krankenwagen fuhr viel zu langsam, so kam es mir vor. Das Martinhorn war unerklärlicherweise nicht eingeschalten. Die Ampeln schienen alle auf Rot zu schalten, nur um uns aufzuhalten. Ich saß neben ihm, dem Mann, der mein geistiger Vater geworden war und hielt seine Hand.

Die Uhren schienen still zu stehen, als der Krankenwagen sich durch die überhitze Stadt schob. Während wir, für mein Gefühl, durch die glühend heißen Nachmittagsstunden Richtung Post über die Langestrasse in Richtung Krankenhaus schlichen, während die Stadt unberührt von diesen Geschehen weiterlebte, sah ich Bilder vor mir. Ich sah ihn und mich, wie wir Stunden und Tageweise an die Pfosten unseres Gartenstores gelehnt bis zum Licht der untergehenden Sonne standen. Und ich hörte ihn erzählen, fesselnde Berichte aus seiner Jugend und von seinen Reisen in die Länder, in die er von den Nationalsozialisten fliehen musste. Jedes Mal habe ich gelauscht und gelernt von diesem besonderen Mann und dabei die Zeit darüber vergessen.

Endlich, am Krankenhaus angekommen, wurde Max Barth von den Sanitätern aus Station gebracht. Ich begleitet sie und vor allem ihn auf dem Weg durch die langen, weißen Korridore. Die Schritte halten durch die Flure, Stimmen mischten sich hinein und als sie mir sagten, dass sie ihn nun genau untersuchen und dann ins Zimmer bringen wollten, rannte ich den ganzen Weg nach Hause – durch diese glühend heiße Luft, die sich wie zum Schneiden anfühlte in den vor Anstrengung brennenden Lungenflügeln. Egal, nur schnell nach Hause, Schlafanzug und persönliche Sachen zusammengerafft, für ihn… für den Mann, der meine Gedanken gelehrt hatte, die Basis in mir zu bilden für alles, was später kam.

Ich griff mein Fahrrad und flog zurück durch die Straßen, die nichts wussten von dieser Schicksalsstunde. In denen das Lebens in der Welt weiterging, als sei nichts geschehen.

Als ich das Krankenhaus erreichte, war es zu spät. Max Barth brauchte nichts mehr von dem, was ich für ihn geholt hatte. Er hatte seinen Frieden gefunden.

Dieser Tag im Juni 1970 ist seitdem ein ganz besonderer Tag für mich. Ich werde die Bilder seiner letzten Stunden nicht vergessen und nicht diese alles niederdrückende Hitze.

Er sagte nie, du musst dies und das – er fragte nie, was bist du.

„Geh weg aus diesem kleinen begrenzten Ort, geh in die Welt und schau mit offenen Augen“.

Mit diesen Worten lehrte er mich den Wert anderer Dinge: Kulturen kennen zu lernen, sich mit Menschen wirklich zu unterhalten, einen wachen Geist zu haben für alles und jeden.

Ein Mensch, der mich eine Wegstrecke meines Lebens begleitete, hat Spuren hinterlassen, die mir heute noch unendlich wertvoll sind. All seine Gespräche und seine Gedanken werde ich nie vergessen.